Im Grunde ist doch so ein Leben mit einer Spalte gar nicht anders als jedes andere Leben? Könnte man meinen. Was man dahinter nicht sieht sind die ewigen Kämpfe, Selbstzweifel, Ausgrenzungen, Momente, in denen du dich wiederholen musst, weil die Leute dich nicht verstehen können oder wollen. Telefonate werden zu Hürden, du versteckst dein Lachen und irgendwann kommt der Punkt, an dem du dich nicht mehr verstecken willst und deine Stimme ergreifen willst für all diejenigen, die diesen Weg noch vor sich haben.
Mein Name ist Julia und ich bin in Kasachstan mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte geboren. Zum Glück waren wir nicht weit von einem Krankenhaus entfern, wo die ersten notwendigen Operationen durchgeführt werden konnten. Allerdings konnte ich nicht an der Brust saugen, meine Mama bekam einen Milchstau und es stellte sich die Frage, woher die Pulver Ersatzmilch herbekommen, um mich mit der Flasche grosszuziehen. Es war sehr traumatisch für meine Mutter mich unter Umständen sterben sehen zu müssen, nur weil die Versorgung in diesem Land nicht optimal gewährleistet werden konnte.
Und dann kam ich mit 5 Jahren nach Deutschland und wurde weiter operiert und hatte hier wirklich eine gute ärztliche Betreuung. Wobei ich diese Erfahrungen im Krankenhaus nicht geniessen konnte. Unter anderem hatte ich noch andere Erkrankungen, z.B. eine Mittelohr-entzündung, wodurch ich jetzt auf einer Seite sehr schlecht höre. Diese wurde auch mehrmals operativ behandelt. Insgesamt hatte ich elf Eingriffe bis zu meinem 20. Geburtstag.
Es heisst «Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.»
Das kann ich gut bestätigen.
Und doch brennen sich gerade die seelischen Wunden sehr ein. Mehr noch als die körperlichen. Wenn du gerade an die weiterführende Schule kommst, mit all den neuen Gesichtern und alle am Anfang der Pubertät, fühlst du dich ganz schön alleine, wenn du die Pausen mit deinen Büchern zubringst, weil sie deine einzigen Freunde zu sein scheinen. Und wenn du dich versuchst, noch unsichtbarer zu machen, damit du nicht wieder das Opfer verbaler Attacken wirst. So habe ich nicht wirklich gelernt, vertrauensvolle Beziehungen in der Kindheit und Jugend zu knüpfen. Es ist, als würde ein wichtiger Schritt in meiner Entwicklung fehlen: Der Umgang mit Gleichaltrigen. Schwierig hat es mir dabei auch gemacht, dass meine eigene Mutter mein Geburtsgebrechen als Fehler, statt als Chance gesehen hat. Es war regelrecht eine Belastung und ich habe mich nie wirklich vollkommen gefühlt. Und es macht so einen grossen Unterschied, wie wir mit uns selbst sprechen. Wie sollen wir uns selbst ermuntern, wenn unsere eigenen Eltern nicht wussten, wie mit all dem Schmerz umzugehen?
Zu all dem Überfluss bin ich auch ein Scheidungskind und habe die väterliche Gewalt hautnah mitbekommen. Mitten in der Nacht in die Fremde zu fliehen ins Frauenhaus, eine neue Schule zu besuchen, die nervenaufreibenden Gerichtsverhandlungen. Und du spürst nur noch Angst und du hast das weiter wachsende Gefühl nicht willkommen zu sein. Als Aussiedlerkind auch noch ein Sozialfall, weil du bei deiner halbtags arbeitenden und aufopfernden Mutter zusammen mit deinem Bruder aufwächst.
Ganz schön viel seelischer Ballast, den du da 20 Jahre lang und darüber hinaus mit dir trägst. Bis du dann die Liebe deines Lebens triffst und plötzlich alles davor egal zu sein scheint. Er nimmt dich, so wie du bist. Und er will auch nicht, dass du dich weiteren Schönheitsoperationen unterziehst, weil deine süsse Nase es ihm angetan hat und er mit dir mittlerweile seit 17 Jahren durch Dick und Dünn geht. Und alles scheint perfekt, du ziehst mit ihm in die Schweiz, gehst an die Uni in Bern, arbeitest nebenher in der Parfümerie Marionnaud und mit 28 Jahren erwartet ihr euren ersten Sohn.
Und dann knallt es….
Diagnose:
Schwere Postpartale Depression, mit längeren Klinikaufenthalten.
Und alles kommt wieder hoch und du kannst nicht für dein Kind sorgen. Das Komische für dich: Wieso wird deine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte im ärztlichen Befund so in den Vordergrund gestellt? Was hat das damit überhaupt zu tun? Haben jetzt alle mit einer LKGS mentale Probleme?
Und so begann meine lange Reise vom tiefsten Fall wieder nach oben. Ich habe gelernt, meinen Selbstwert nicht mehr von aussen bestätigen zu lassen. Selbstliebe und Mitgefühl für sich selber, das musste ich ganz neu lernen. Immer war ich in allen Bereichen auf der Überholspur: Uni, Beruf, Haushalt… alles musste perfekt sein. Um zu kompensieren, was nicht perfekt war. Bis eben mein Körper STOPP gerufen hat. Und so fand ich durch den Sport zu einem selbstbewussteren Körpergefühl, die Stille im Wald beim Wandern hat mich geerdet und ich habe mich mehr und mehr selbst angenommen. An dieser sehr schwierigen Situation bin ich definitiv gewachsen und ich wäre nicht der Mensch der ich heute bin. Die negativen Erfahrungen waren es, die mir den Willen gaben, die Eigenverantwortlichkeit in mir zu stärken, um Gutes zu bewirken. Stolz kann ich heute sagen, dass ich zwei gesunde Jungs habe, nach dem tiefen Fall wieder arbeiten gehen und positiv nach vorne sehen kann. Auch mit meinem Vater habe ich nach 20 Jahren wieder regelmässigen Kontakt und ein sehr gutes Verhältnis. Meine Motivation im Vorstand der Patientenorganisation «LKGS Schweiz – gemeinsam stark» liegt darin begründet, die Betroffenen wie auch die Angehörigen im mentalen Bereich zu stärken. Das habe ich am eigenen Leib erfahren und weiss, dass es einen Unterschied macht, wenn man von Anfang an positiv interveniert.