Meine Geschichte mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte

2003 wurde ich mit einer kompletten linksseitigen Lippen-Kiefer-Gaumenspalte geboren. Bereits im Alter von sechs Monaten wurde bei mir alles in einer einzigen Operation verschlossen – ein Geschenk, dass ich genügend „Material“ hatte, um die Spalte vollständig zu schliessen. Auch die Lippe konnte dabei erstaunlich symmetrisch rekonstruiert werden.

Der Beginn: Sprache, Freunde und erste Hürden

Das Sprechen lernen verlief für mich glücklicherweise ohne grössere Schwierigkeiten. Ich ging zur Logopädie, um vor allem Laute wie „S“ oder „P“ zu üben. Das war aber nichts Ungewöhnliches, denn viele meiner Freundinnen waren ebenfalls in der Logopädie. Ich fühlte mich nie ausgeschlossen oder „anders“.

Was mich jedoch geprägt hat und ich rückblickend, als das Nervenzehrendste empfinde, war der lange Weg mit meinen Zähnen. Mit sieben Jahren begann alles mit der ersten Spange im Gaumen. Das war der Auftakt zu einer elfjährigen Reise: monatliche Zahnarztbesuche, Zähne ziehen, Spritzen, Zahntransplantation. Ich erinnere mich noch gut an Momente, in denen ich als Kind weinend mit meiner Mama auf dem Zahnarztstuhl sass und meinen Mund erneut öffnen musste.

Damals war mir noch nicht bewusst, dass sich all diese Mühen eines Tages auszahlen würden und wie sehr ich die Arbeit und das Engagement der Fachpersonen später zu schätzen wissen würde.

Eine unbeschwerte Kindheit - trotz Einschränkungen

Trotz all der medizinischen Eingriffe hatte ich eine wunderschöne Kindheit. Ich war gesegnet mit echten Freundschaften, wurde akzeptiert wie ich war und es störte im Alltag kaum, dass ich eine Spalte hatte. Klar, es gab ab und zu einen doofen Spruch über meine „krumme Nase“, aber das war die Ausnahme, nicht die Regel. Eine weitere Herausforderung war mein Belastungsasthma, das mir beim Fussballspielen manchmal im Weg stand. Aufgrund meines schiefen Nasenbeins konnte ich nur etwa 40% durch die Nase atmen. Aber auch damit lernte ich umzugehen und mein Asthma zu kontrollieren.

 

 

Jugendjahre, Selbstzweifel und Masken, die Schützen

Mit der Corona-Pandemie im Jahr 2020 kam vieles ins Wanken, doch für mich hatte die Zeit auch etwas Positives: Die Maske. Endlich konnte ich mein Gesicht bedecken, ohne mich erklären zu müssen. Ich fühlte mich freier, konnte unbeschwert sein und musste nicht ständig befürchten, dass jemand über meine Lippe oder Nase urteilt.

In der Zeit zwischen 14 und 17 Jahren wurde mein äusseres Erscheinungsbild zunehmend ein Thema für mich. Obwohl ich von meinem Umfeld stets angenommen wurde, wie ich bin, entwickelte ich selbst Unsicherheiten. Besonders meine Nase, die durch die Spalte etwas schief war und meine noch immer asymmetrische Zahnstellung belasteten mich. Statt eines Frontzahns hatte ich übergangsweise einen Eckzahn an dessen Stelle, was mein Lächeln für mich unausgeglichen wirken liess.

Auch wenn es niemand direkt ansprach, hatte ich oft das Gefühl, anders zu sein. Ich begann mich zu vergleichen mit Freundinnen, mit Menschen im Internet, mit Schönheitsidealen, die kaum jemand wirklich erfüllt. Fragen, die mich oft beschäftigten waren: „Wie würde ich aussehen, wenn ich keine Spalte hätte?“ oder „Warum gerade ich?“

In dieser Phase stellte ich mich aber auch aktiv meinen Fragen. Im Rahmen meiner Maturaarbeit setzte ich mich ein ganzes Jahr lang intensiv mit dem Thema Lippen-Kiefer-Gaumenspalte auseinander. Ich wollte wissen, wie andere Betroffene damit umgehen, denn bis dahin hatte ich nie direkten Kontakt zu jemandem mit einer Spalte gehabt. Dieser Austausch hatte mir gefehlt.

Die Arbeit ermöglichte mir viele wertvolle Gespräche mit Betroffenen, Fachpersonen und Eltern. Ich hörte Geschichten, die mich bewegten und fand mich in vielem wieder. Diese intensive Auseinandersetzung half mir ganz unbewusst dabei, innerlich Frieden mit meiner eigenen Geschichte zu schliessen. Rückblickend war dieses Jahr ein bedeutender Schritt für mein Selbstverständnis und meine persönliche Entwicklung.

Während diesem Jahr kam auch mein lang ersehntes Highlight des ganzen Prozesses:

Nasenkorrektur, Keramikzähne und ein neues Lächeln

Der Tag, an dem der Termin für meine Nasenoperation endlich feststand, war ein echter Meilenstein. Im gleichen Jahr bekam ich vier Keramikzähne, die mein Lächeln komplett veränderten. Keine asymmetrische Zahnstellung mehr, keine auffälligen Lücken. Ich konnte endlich unbeschwert lachen. Das hatte einen riesigen Einfluss auf mein Selbstbewusstsein.

Heute mit Dankbarkeit - und einem Rest Sorge

Heute bin ich 21 Jahre alt und habe meinen Frieden mit meiner Spalte gemacht. Ich habe gelernt, mich selbst anzunehmen und sehe viele positive Aspekte meiner Geschichte. Ich bin dankbar für mein stabiles Umfeld, für die engagierten Ärztinnen und Ärzte und für all die Erfahrungen, die mich zu dem Menschen gemacht haben, der ich heute bin.

Und doch bleibt eine Sorge tief in mir: Wird mein Kind das auch durchmachen müssen?
Ich weiss nicht, ob meine Spalte genetisch bedingt ist oder reiner Zufall, aber der Gedanke beschäftigt mich. Denn obwohl ich heute gestärkt daraus hervorgegangen bin, wünsche ich mir für meine zukünftigen Kinder ein Leben ohne diesen Weg.

 

Sind Sie neugierig geworden und wollen mehr Informationen? Hier der Link zu Carmens Maturaarbeit:

Maturaarbeit 2021 Carmen Achermann.pdf